Beispiel 1: Ärztemangel

Arztpraxen schließen – Ersatz ist schwer zu organisieren

In keinem Bereich hat der Mangel an Fachkräften so schwerwiegende, bisweilen lebensbedrohliche Folgen wie in der Medizin. So müssen Menschen in Sachsen oft unzumutbar lange auf einen Arzttermin warten. Besonders im ländlichen Raum ist es außerdem mancherorts nahezu unmöglich, einen Hausarzt zu finden – ratlos wenden sich Patientinnen und Patienten an Bereitschaftsstellen und Notaufnahmen. Zu den Regionen mit kritischer Unterversorgung zählt das Vogtland. Steffen Heidenreich ist Allgemeinmediziner und praktiziert in seiner Hausarztpraxis in Auerbach. Seit 2003 arbeitet er als niedergelassener Hausarzt, vier Jahre lang war er auch Vorsitzender des Sächsischen Hausärzteverbandes. Er kennt nicht nur die Gebrechen seiner Patientinnen und Patienten, sondern weiß auch, woran das Gesundheitssystem krankt.

»Von den sieben Hausärzten in Auerbach werden zwei demnächst in Rente gehen«, berichtet er. »Nur zwei sind jünger als 55 Jahre. Das ist das Grundproblem: Man hat es in den vergangenen 25 Jahren versäumt, Nachwuchs zu generieren.« Die jüngst eingeführte Landarztquote werde, wenn überhaupt, erst in fünfzehn Jahren für Entlastung sorgen. So lange dauert es, bis Medizinstudierende endgültig in der hausärztlichen Praxis ankommen. Wie wäre es möglich, jetzt schon ausgebildete Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu locken? »Unsere Bezahlung ist nicht schlecht«, stellt Heidenreich klar. Auch sei es kein finanzieller Kraftakt mehr, eine Hausarztpraxis zu übernehmen.

Das Problem seien die Arbeits- und Lebensbedingungen. Der über Jahrzehnte vernachlässigte ländliche Raum sei für junge Medizinerinnen und Mediziner oft nicht attraktiv. Außerdem litten Ärztinnen und Ärzte unter unbezahlter Zusatzarbeit, die durch überbordende Dokumentationspflichten und eine unausgegorene Digitalisierung verursacht werde. »Es muss einfach diese Bürokratie weg!«, fordert Heidenreich. Um zu verhindern, dass Arzthelferinnen aus Praxen in Kliniken abwandern, sei mehr Geld von den Krankenkassen für bessere Bezahlung notwendig. Überhaupt wünscht sich Heidenreich mehr Anerkennung für die ambulante Medizin, insbesondere durch die Politik, die stattdessen oft nur die »Selbstausbeutung« der medizinischen Fachkräfte lobe. Das »System der Zukunft« ist für ihn das in anderen europäischen Ländern selbstverständliche »Primärarztsystem«, in dem Hausärzte stets die Erstuntersuchung vornehmen und nur bei Bedarf zu Fachärzten überweisen. Ohne grundlegende Reformen hingegen, so vermutet Steffen Heidenreich, könnte die Hausarztpraxis zum »sterbenden Ast« des Gesundheitssystems werden. Dies wäre eine schlechte Nachricht für viele Menschen, die zurecht ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt besonderes Vertrauen entgegenbringen.

Wenn wir die ärztliche Versorgung sichern wollen, brauchen wir dringend auch mehr Polikliniken. Der ambulante und der stationäre Sektor müssen verzahnt werden. Innovative Praxismodelle wie Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften müssen stärker unterstützt werden, rollende Arztpraxen und Gemeindeschwestern ebenso. Nötig sind umfassende Digitalisierung und Entbürokratisierung, demographische Faktoren müssen bei der Bedarfsermittlung berücksichtigt werden.

Gegenüber 2019 hat sich die Zahl der unbesetzten Hausarztstellen von 248,5 auf 426 fast verdoppelt. In 32 der 48 Planungsbereiche droht Unterversorgung, 2015 war dies nur in zehn der damals 47 Bereiche der Fall. Der Versorgungsgrad in manchen Gemeinden liegt unter 75 Prozent. Bei den Fachärzten sieht das nicht viel anders aus. Das Durchschnittsalter der Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner beträgt knapp 55 Jahre. Längst nicht alle können und werden weit über ihr 70. Lebensjahr hinaus praktizieren, weil die Arbeitsbelastung sie ausbrennt.

Wir dürfen nicht erwarten, dass Patientinnen und Patienten ewig bis zur nächsten Praxis fahren. Viele werden lieber Besuche hinausschieben oder in die Notaufnahme gehen – mit entsprechenden Folgen für ihre Gesundheit und das Gesundheitssystem. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass alle Menschen bei Bedarf hausärztlich versorgt werden! Der Anspruch der Bevölkerung, vor Ort gut versorgt zu werden und einen Termin zu bekommen, ist angemessen: Schließlich bezahlt sie dies alles mit ihren Beiträgen.